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Mein Leben und Streben - Karl May

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Das Schlimmste an dieser Lektüre war, daß sie in meine spätere Knabenzeit fiel, wo alles, was sich in meiner Seele festsetzte, für immer festgehalten wurde. Hierzu kam die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in hohem Grade besitze. Ich glaubte an das, was ich da las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit. Nur Großmutter schüttelte den Kopf, und zwar je länger, desto mehr; sie wurde aber von uns andern überstimmt. Es war uns in unserer Armut ein Hochgenuß, von »edlen« Menschen zu lesen, die immerfort Reichtümer verschenkten. Daß sie diese Reichtümer vorher andern abgestohlen und abgeraubt hatten, das war ihre Sache; uns irritierte das nicht! Wenn wir lasen, wieviel bedürftige Menschen durch so einen Räuberhauptmann unterstützt und gerettet worden seien, so freuten wir uns darüber und bildeten uns ein, wie schön es wäre, wenn so ein Himlo Himlini plötzlich hier bei uns zur Tür hereinträte, zehntausend blanke Taler auf den Tisch zählte und dabei sagte; »Das ist für euren Knaben; er mag studieren und ein Dichter werden, der Theaterstücke schreibt!« Das letztere war mir nämlich, seit ich den »Faust« gesehen hatte, zum Ideal geworden.

Ich muß bekennen, daß ich diese verderblichen Bücher nicht nur las, sondern auch vorlas, nämlich zunächst meinen Eltern und Geschwistern und sodann auch in anderen Familien, die ganz versessen darauf waren. Es ist gar nicht zu sagen, welchen unendlichen Schaden eine einzige solche Scharteke herbeiführen kann. Alles Positive geht verloren, und schließlich bleibt nur die traurige Negation zurück. Die Rechtsbegriffe und Rechtsanschauungen verändern sich; die Lüge wird zur Wahrheit, die Wahrheit zur Lüge. Das Gewissen stirbt. Die Unterscheidung zwischen gut und bös wird immer unzuverlässiger! das führt schließlich zur Bewunderung der verbotenen Tat, die scheinbar Hilfe bringt. Damit ist man aber nicht etwa schon ganz unten im Abgrunde angelangt, sondern es geht noch tiefer, immer tiefer, bis zum äußersten Verbrechertum.

Das war zur Zeit, als bestimmt werden mußte, was nach der Konfirmation aus mir zu werden hatte. Ich wollte so unendlich gern auf das Gymnasium, dann auf die Universität. Aber hierzu fehlten nicht mehr als alle Mittel. Ich mußte mit meinen Wünschen weit herunter und kam zuletzt beim Volksschullehrer an. Aber auch hierzu waren wir zu arm. Wir sahen uns nach Hilfe um. Der Herr Kaufmann Friedrich Wilhelm Layritz, mit dem Herrn Stadtrichter gleichen Namens, aber nicht mit ihm verwandt, war ein sehr reicher und sehr frommer Mann. Man hatte ihm zwar noch keine Wohltat nachweisen können, aber er versäumte keinen Kirchgang, sprach gern von Humanität und Nächstenliebe und war unser Gevatter. Wir hatten uns nach allem erkundigt und uns einen Ueberschlag gemacht. Wenn wir recht arbeiteten, recht sparten, recht hungerten und ich auf dem Seminar keinen Pfennig unnütz ausgab, so bedurften wir nur eines Zuschusses von fünf bis zehn Talern pro Jahr. Das hatten wir ausgerechnet. Freilich stimmte es nicht; aber wir glaubten, daß es stimme. Meine Eltern hatten nie auch nur einen Pfennig geborgt; jetzt waren sie mir zu Liebe zu einer Anleihe entschlossen. Mutter ging zum Herrn Layritz. Er setzte sich in den Lehnstuhl, faltete die Hände und ließ sich ihr Anliegen vortragen. Sie schilderte ihm alles und bat, uns fünf Taler zu borgen, nicht gleich jetzt, sondern dann, wenn wir sie brauchten, also wenn ich die Aufnahmeprüfung bestanden haben würde. Bis dahin aber war noch lange, lange Zeit. Da antwortete er, ohne sich lange zu besinnen: »Meine liebe Frau Gevatter, es ist wahr, ich bin reich, und Sie sind arm, sehr arm. Aber Sie haben denselben Gott, den auch ich habe, und wie er mir bis hierher geholfen hat, wo wird er auch Ihnen weiterhelfen. Ich habe auch Kinder wie Sie und muß für sie sorgen. Ich kann Ihnen also die fünf Taler nicht leihen. Aber gehen Sie getrost nach Hause, und beten Sie recht fleißig, so wird sich ganz gewiß zur rechten Zeit jemand finden, der sie übrig hat und sie Ihnen gibt!«

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