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Rabenliebe - Peter Wawerzinek

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Dein Pochen, guter Rabe, wovor warnt es mich? Du sollst die Mutter nicht aufsuchen, ist die ewige Antwort. Ich mache mich bereit meint, ich richte mich darauf ein, gegen die Adoption zu sein; ein Entschluss, der geheim gehalten werden muss, soll der große Plan am Ende gelingen, ich mich der Adoption entwinden, dem unguten Klima entkommen. Ich entwinde mich der Muttersehnsucht. Ich will in keinen Schoß zurückkehren. Ich bin bereits unterwegs. Ich löse mich von den Sachzwängen. Ich gerate weg von mir auf mich zu, um endlich zu mir zu finden. Die Adoptionsmutter ist längst zu weit in Notlügen verstrickt, als dass sie den Rettungsanker wirft, den nötigen Schnitt machen kann, sich von den Mutter- und Vaterlügen zu lösen. Darüber, woher ich komme, wer ich bin, wo eventuell die Eltern hin verschwunden sind, ist der Mantel des eisigen Schweigens geworfen. Still ruht der See, die Vöglein schlafen, ein Flüstern nur, du hörst es kaum, der Abend naht und senkt sich nieder, still ruht der See, durch das Gezweig, der Schweigeodem weht, das Blümlein an dem Seegestade, stummt das Schweigegebet, die Sterne friedsam niedersehen, oh Kinderherz, gib dich zufrieden, du sollst in Schweigen gehen.

Wir alle, die wir träumen und denken,

sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft,

wir schließen Bilanz, und der unsichtbare Saldo

spricht immer gegen uns.

Pessoa

JAHRE SPÄTER FÄLLT mir ein entscheidendes Schreiben in die Hände. Ein Brief, nicht an mich adressiert, kommt mir verdächtig vor. Ich nehme ihn an mich, halte den Umschlag über Wasserdampf, entnehme ihm das Schreiben, lese den Inhalt und fasse den Entschluss, ihn ganz für mich zu behalten und selbst zu beantworten. Im Namen der Adoptionseltern antworte ich dem Krankenhaus auf seine Anfrage, ohne die Adoptionseltern in Kenntnis zu setzen. Leichten Herzens und voller guter innerer Gemütsbewegung schreibe ich dem Krankenhaus; nehme die Geschicke des Adoptionshauses in die Hand, übe Rache an der Adoptionsmutter, die mit mir nicht in die Stadt Stralsund gefahren ist und mir die Schwester vorenthalten, bösartig verschwiegen, mich draußen vor den Toren des Krankenhauses warten lassen hat. An der kleinen Reiseschreibmaschine mit dem schönen Namen Kolibri sitze ich, dem Krankenhausleiter in Stralsund dahin gehend Bescheid zu schreiben, dass die Adoptionseltern bereit sind, meine Schwester umgehend aufzunehmen, sie ihnen mehr als willkommen ist im so erwartungsvollen Hause.

Aufhebung nach Volljährigkeit des Angenommenen Ist der an Kindes Statt Angenommene volljährig geworden, so kann das Staatliche Notariat in besonderen Ausnahmefällen auf gemeinsamen Antrag des Annehmenden und des Angenommenen die Annahme an Kindes Statt aufheben. Wurde das Kind durch ein Ehepaar angenommen, kann der Antrag nach dem Tode eines Ehegatten von dem Angenommenen und dem überlebenden Ehegatten gestellt werden.

VON DEN BERUFEN, die mir in der Kindheit vorschwebten, erinnere ich mich an Kosmonaut, Zirkusclown, Tiefseetaucher, Koch. Schriftsteller war nicht dabei. Schriftsteller wäre ich nach dem Willen der Adoptionsmutter geworden. In der Hoffnung, meine Texte würden veröffentlicht, zum Buch werden. In der Vorfreude, ich würde bald aus dem Buch vorlesen, lesend durch die Lande kommen, in ferne Gegenden und andere Städte. Dafür setzte sie eine Weile ihre Person ein, aber nie alles auf eine Karte. Der Adoptionsvater sprach von vergeblicher Kunst. Die Adoptionsmutter schwor ab, beugte sich für das große Ganze, die Einheit der Familie und wollte mich lieber zum Lehrer gemacht sehen. Wir haben im Heim keinen Berufswunsch geformt. Wir sagten uns, dass wir niemals Heimleiter und nie Erzieher werden wollen, das genügte uns. Ich denke, ich wollte eine Zeit lang Schiffskoch werden. Das war um die Jahre, als ich zum Test bei der Köchin zu Gast im Hause gewesen bin. Sie hat mir davon geschwärmt, wie es sei, mit dem Schiff um die Welt zu fahren. Besser als der Kapitän habe es der Koch an Bord. Und werden die Lebensmittel noch so rar, der Koch verliert nicht einen Gramm seiner Fülle, sagte sie. Als mich die Köchin ins Heim zurückbringt, geht auch mein Berufswunsch über Bord, wie man sagt. Ich bin im Leben nicht sonderlich zielstrebig, was ein Berufsleben anbelangt. Ich stehe über viele Monate an einem Säurebottich in einer Fließbandfabrik, hebe glitschige Bildröhren aus dem Band, tauche sie ins Becken, entferne die Beschichtungen, ätze sie weg, schneide mir durch den Gummihandschuh ins Daumenfleisch, verätze mir den Daumen, der dick wird wie eine Gurke, beende das Arbeitsverhältnis, werke in einem Kinderkrankenhaus, wo die Krankenschwestern die Kinder ans Bettgestell binden, wenn sie Ruhe haben wollen und Kaffee trinken. Ich befreie die Kinder immer wieder, bis sie mich deswegen entlassen, ich erstatte Anzeige, beschmutze das feine Nest, bis mir versprochen wird, dem Sachverhalt nachzugehen. Ich trage ein Jahr lang Telegramme aus. Ich arbeite über ein Jahr lang in einer Tischlerei, transportiere mit einem rumänischen Tischlereilaster Holzteile, Türen, Fenster, Balken, bin nach dem Job als Kellner in Zügen unterwegs und fasse im zehnten Arbeitsjahr den Entschluss, Schriftsteller zu werden, mit allen Folgen einer freien Existenz, um eines Tages über meine Mutter zu schreiben. Den Titel Rampenwart für meinen letzten Job im Leben haben sie eigens meinetwegen erfunden. Ich werde als halber Rausschmeißer entlöhnt.

Wenn es nach den Adoptionseltern gegangen wäre, wäre ein Lehrer aus mir geworden. Ich denke mich eine Weile in die Möglichkeit hinein. Wahrscheinlich wäre ich der Typ Lehrer, der seine lederne Lehrertasche in die Ecke kickt, den Hintern auf den Lehrertisch pflanzt, die Beine baumeln lässt, in Jeans und Rollkragenpullover, mit Turnschuhen an den Füßen auftritt. Ich trage das kragenlose Russenhemd aus fester schwarzer Seide mit seitlicher Knopfleiste, Manschetten, farbenfroh bestickt.

Als ersten Akt meiner Lehrerei beseitige ich den Streifen Sichtschutzfarbe an allen Fenstern. Meine Schüler sollen rausgucken, die Vögel bestaunen, wie ich sie in der Heimkindzeit vom Fenster aus bestaunt habe und Zeiten zugebracht mit nichts anderem als den fliegenden Tieren zuzuschauen, die sich um das Vogelfutterhäuschen scharten. Mit grüner Hingabe, blauer Ausdauer, roter Lässigkeit wäre ich ein Lehrer der Verletzlichkeit und Stärke, Che Guevara, Marlon Brando und ein Motorradrebell mit Dreitagebart geschmückt. Ich meistere in Greifswald eine Bewerbung zum Lehrerstudium, kann Lehrer werden. Der Vietnamkrieg ist im tödlichen Gange. Hippis werden als Gammler beschimpft. Am Ostseestrand laufen Jungen und Mädchen nackt herum. Die Haare tragen wir jeden Monat länger. Manchem wächst das Ohr zu. Die Mädchen mögen James Dean, wer die Beatles mag, kann die Stones nicht leiden. Massenhysterie von ungekanntem Ausmaß kommt auf. Wir sitzen in der Hollywoodschaukel unserer Eltern, saugen die Songs des legendären Woodstock-Festivals unter Kopfhörern in uns auf, die Ruhe der Schrebergärten nicht zu stören. Wir erklären Frank Zappa zu unserem obersten Staatsratsvorsitzenden. Mit der Plastiktüte in der Faust, Aufdruck Ostseetrans über der westlichen Zigarettenwerbung, laufen wir demonstrativ am Hausmeister vorbei, der Alkoholiker ist und nicht die Staatsmacht. Wir sind stolz auf dich, lobte die Adoptionsmutter mich, solange ich in Greifswald studieren will.

Ich bekomme das Tonbandgerät geschenkt, das neuste Modell, man kann es an der Wand anbringen. Bänder abspielbar in der Horizontalen. Ich bin stolz auf mein megafetziges В Sonst was 93, das keiner der Jungs aus meiner Clique besitzt. Ich kann Westradio mitschneiden. Side A und Side B. The Kinks, Jethro Tull, Emerson, Lake and Palmer, Crosby, Stills, Nash and Young. Die Doppel-LP, das Dreifachalbum, wertvoll wie der Schellparker, wie Räucheraal. Joe Cocker, Janis Joplin, Jimi Hendrix. Ich habe sie alle auf Band und höre sie ohne Unterbrechung. Ich werde ein Unterhaltungskünstler. Ich bin dann ein Schallplattenalleinunterhalter, wie man den Discjockey nannte, weil Discjockey zu amerikanisch klingt, Amerika das Böse darstellt. Die Bude ist rappelvoll. Die Boxen sind selbst gezimmerte Schallschränke vom Feinsten. Die Lautsprecher sind über das Flugwesen besorgt. Meine Disco ist beliebt. Siebzig Motorräder stehen in den Bestzeiten vor der Tür.

Ich bewahre unter einer Glasscheibe schön geformte Hölzer auf, bei meinen Spaziergängen am Ostseestrand aufgelesen. Wenn ich traurig bin, wenn ich mich am Strand entlang verlieren will, im Sande untergehen, vom Horizont erfasst, hinter den Horizont gekippt, von allem Adoptiven getrennt, von dem Leben im Heim, von den verschiedenen Leben an den nach den Heimen folgenden Orten; die Jahre meiner Jugend aufgebend, der Zeit der Schönschrift, des guten Benehmens entsagen. Einfach über den Jordan springen, frei zu sein von allem Ballast. Eine Reihe von Begriffen belastet mich. Ich muss die Räume, in denen schädliche Begriffe kursieren, umgehend verlassen. Die gesamte Phase der Manuskriptarbeit über stoße ich auf Begriffe, die mir Angst machen. Ich muss das Wort Mutter benutzen, obwohl es mir verhasst ist. Ich schreibe die Worte Vater, Liebe, Wärme, Einsamkeit, Heimat nieder. Ein Zigarettenstummel braucht vierhundert Jahre, um sich im Meer aufzulösen. Worte, die nicht die Worte sind, für die sie stehen, sondern Worte, die ich zu benutzen gezwungen bin. Worte, die das Filtersystem für meine Worte ausstößt, will ich von mir berichten, von den Dingen, die mich belasten. Ich bin eine an Worten krankende, schreibende Person, die sich für Momente zurücknehmen muss und still auf einem Bett liegt, möglichst nackt, dass sich der ungebührliche Gebrauch mir fremder Worte über die Haut entlädt, mich über die Haut erneuert.

Wirkung der Aufhebung

Mit der Aufhebung der Annahme an Kindes Statt erlöschen die zwischen dem Annehmenden und dessen Verwandten einerseits und dem Angenommenen und seinen Abkömmlingen andererseits bestehenden rechtlichen Beziehungen. Gleichzeitig leben die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Verwandten aufsteigender Linie mit Ausnahme des elterlichen Erziehungsrechts wieder auf; das Kind erlangt seinen früheren Familiennamen zurück. Ist das Kind noch minderjährig, so kann das Gericht im Aufhebungsverfahren auf Antrag des Organs der Jugendhilfe den Eltern oder einem Elternteil das Erziehungsrecht übertragen.

KURZ VOR DREIZEHN UHR kommt der Bus aus Bad Doberan, in ihm die Schwester. Der Adoptionsvater ist in der Schule. Die Adoptionsmutter geht ihrer Hausarbeit nach, saugt, wischt, sorgt für Ordnung in der Flurgarderobe. Wenn ich sie nicht einweihe, ihr nicht sage, was für eine kapitale Situation ihr ins Haus beschert wird, handle ich ihr gegenüber nicht groß anders als sie mir gegenüber. Die Großmutter weihe ich ein, sie weiß Bescheid, hält dicht, gibt mir freudig Rückendeckung. Junge, sagt sie, hol frischen Schnittlauch aus dem Garten für den Quark. Zur Begrüßung der Schwester soll es Pellkartoffeln und Quark mit gelbem Leinöl geben. So etwas Einfaches und einfach Gutes hat das Mädchen lange nicht gehabt, sagt sie, legt das Kautschkissen auf das Fensterbrett nach hinten hinaus, sitzt am offenen Fenster, schaut über das Hühnergatter, die Obstbaumwipfel zur kleinen Erhöhung in die Landschaft hinaus, den Zipfel Straße zwischen Bäumen, von wo der Bus kommen muss. Ich stehe am Bushäuschen, fiebere mit der Großmutter dem Ereignis entgegen. Die Schwester, vom Krankenhaus entlassen, reist mit drei Koffern an. Ich lasse sie in meinem Jugendzimmer wohnen, übernachte auf der Omakautsch, im Zimmer über die Straße.

Die Schwester wird die Sensation unter meinen Freundinnen. Die Mädchen sind hellauf begeistert von dem weltfremden Neuankömmling. Achtzehn lange Jahre in einem Krankenhaus, achtzehn lange Jahre Treppenwischen, Wäsche wringen, achtzehn lange Jahre, ohne Ferien, ohne einen einzigen Besuch, außer dem durch meine Mutter, achtzehn lange Jahre mit vielen kranken Kindern unter einem Dach und doch ganz allein auf dieser Erde, achtzehn Jahre, wie hält man das nur so lange aus, fragen sie sich und wollen alle umgehend Schaden ausbügeln, Fehlentwicklung begrenzen, an dem armen Mädchen wiedergutmachen, aufholen, die Schwester ins Leben führen, das Mädchen aus dem Nichts, das Mädchen, das so keine Ahnung von Mode und Chic besitzt, ist auf den Stand der Moderne zu erheben. Die Schwester lässt sich geduldig die Haare auftoupieren, das Gesicht schminken, die Mädchen beweisen sich an ihr gegenseitig in ihrer Gestaltungswut. Das Aussehen der Schwester wechselt am Tag mehrmals. Ist das noch das Mädchen, das ich Tage zuvor am Buswartehäuschen in Empfang genommen, fragt die Großmutter amüsiert. Eine gut aussehende, toll aufgemachte Schwester tritt durch die Jugendzimmertür in die Welt hinaus und macht die unbedarfte kleine Schwester vergessen. Damals ungeheuer angesagt, die gehäkelte Maschenlochweste in Hellblau mit Fransen am Ellenbogen, Schlagärmeln, glitzernde Klunker, unzählige Ketten aus Bernstein, Holz, Knochen, Horn, Muscheln, Metall, Keramik, Glas, auf Faden gefädelt, Amulette aus Strandtreibgut. Er hatte sie lieb, er hatte sie wert, er nahm sie vor sich auf sein Pferd, er ritt mit ihr über Berg und Tal, bis dass sie zu ihrer Frau Mutter kam, die sie wohl nimmt in den Arm, bei der Hand, die Schwester läuft just zum Keller hinein zu holen die Kann mit Wein. Solange ich im Haus bin, ist die Schwester von allen Zwängen befreit, von jedweder Haushaltsverpflichtung abgeschirmt, unsere kleine Königin, kann sich gelöst als eine freie Person bewegen, neben dem gepriesenen eigenen Geschmack ausbilden, durchatmen, ausruhen, sich am Dasein erfreuen, das Besondere am Gewöhnlichen ertasten, mit dem Herzen empfinden; angeleitet und geführt von gleichaltrigen Mädchen, die ihr nicht lange in ihren Entwicklungen voraus sind. Drei Chinesen mit dem Kontrabass saßen auf der Straße und erzählten sich was. Da kam die Polizei: Ja was ist denn das, drei Chinesen mit dem Kontrabass. Alles ist möglich. Alles wird mit ihr unternommen. Die Großmutter deckt das Treiben, sagt zur Adoptionsmutter: Sind junge Leute, müssen sich doch austoben können, sind nicht anders, wie wir früher waren, nicht die Spur anders.

Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens habe ich mich täuschen lassen. Nun wird man mir das nötige Wissen zu meiner Identität nicht verweigern, wie es mir von allen Beteiligten um die Adoptionseltern vorenthalten worden ist. Denn sie steckten alle unter einer Decke. Sie alle haben mir gegenüber vertuscht und gelogen. Niemand hat es gewagt, mich persönlich anzusprechen und mich auf die Mutterfährte zu setzen. Sie haben alle geschwiegen und ihr Wissen hinuntergeschluckt. Als wäre der Waise gegenüber lebenslang ihr Dasein zu verheimlichen. Als würde die Waise niemals Wind bekommen und anheben, nach der Wahrheit zu suchen. Als würde die Waise in dem künstlichen Pool der Adoption freudig und dankbar schwimmen und niemals auf eigene Faust das Schwimmbecken verlassen, Nachforschung tätigen und dumm ergeben wohlgefällig zum Mitläufer der Adoption werden wollen. Die Grenzen sind auszuloten und zu überschreiten, sobald es an der Zeit ist. Ein Schlusspunkt ist zu setzen, dass etwas neu beginnen kann. Und ist es so weit, wird keine Rücksicht mehr genommen und jede schreckliche Folge einkalkuliert. Die Adoptionsmutter musste ich zuerst vor den Kopf stoßen. Sie hat lange und dreist genug gegen mein Bestreben, mehr zu mir zu erfahren, gearbeitet, gegen meine Mutter, meinen Vater Kübel geleert. Was immer mit dem Vater war, und wer immer meine leibliche Mutter gewesen ist, sie hätte ihre Zunge hüten müssen, sich lieber die Zunge zerbeißen sollen, als gegen Vatermuttermein zu hetzen. Nun war es genug der üblen Reden. Nun hatte sie sich hinreichend böse gegen die unbekannten Eltern und somit auch gegen mich aufgeführt, sich abfällig geäußert und wie Speck in einer Pfanne ausgelassen. Jetzt ist diese Frau daran zu hindern, an mir schuldig zu werden, wie oft sie sich auch entschuldigt haben möchte, in all den Jahren. Auch wenn sie jedes Mal herzhaft angab, sie habe sich nicht zu helfen gewusst, habe übertrieben geredet, es gibt kein Recht für eine Adoptionsmutter, die Mutter, den Vater des Schutzbefohlenen Hure zu schimpfen und Taugenichts, Säufer, Verbrecher. Es ist daran nichts gut. Es hat verletzt und es schmerzt die Seele. Mein Leben lang wird da nichts gelindert. Das unbelastete Beisammensein währt nicht lang. Immer kommt einem was in die Quere, wenn die Umstände gerade so günstig erscheinen. Ich werde in die Nationale Volksarmee verpflichtet, zum Dienst an die deutsch-deutsche Grenze gestellt, auf Friedenswacht am Zaun, hinter dem meine Eltern zu finden sind. Mit der Uniform am Leibe reift der Gedanke zur Flucht. Das Land verlassen, mit der Kalaschnikow in voller Montur. Am Postenpunkt einundvierzig, wo für die wilden Tiere ein Loch im Zaun gelassen wurde. Die Uniform wird meiner Muttersuche den Touch des politischen Aktes verleihen. Grenzsoldat flüchtet zur Mutter. Mein Bild in allen Zeitungen. Fluchtkind trifft Fluchtmutter. Ich will das Heil in der Flucht auf dem Pfad der Tiere suchen, wo es die zur Fluchtverhinderung ausgelegten Drähte, flach und stramm über den Boden gespannt, nicht gibt, die leuchtende Raketen auslösen, Alarm schlagen, Truppenteile wachrufen, Hetzhunde auf die Spur setzen, die mich jagen und reißen. Auf dem Bachstrom hängen Weiden, in den Tälern hängt der Schnee, muss nun unsre Heimat meiden, tief im Herzen tut mirs weh. Hunderttausend Kugeln pfeifen über meinem Haupte hin, wo ich fall, scharrt man mich nieder, ohne Klang und ohne Lieder, niemand fraget, wer ich bin. Lebe im gespaltenen Land. Trage einen gespaltenen Daumen an meiner Hand. Blitze spalten Bäume. Die Erdoberfläche sieht sich in Zeitzonen, Längengrade unterteilt. Chromosomen teilen sich. Zypern sieht aus der Perspektive der Zugvögel wunderschön aus und kein türkischer Norden, kein griechischer Süden ist auszumachen. In meiner Mappe oben befindet sich die Abbildung der Installation Mutter und Kind, eine in Formaldehyd gelegte halbe Kuh und das halbe Kalb dazu, von Damien Hirst. Auf dem Bild teilt sich das Sonnenlicht im Kunstwerk so schön in Strahlen auf. Das Halbierte von Sonnenstrahlen zusätzlich zerteilt und eingeschnitten. Buda wird mit Pest erst Budapest. Teilung herrscht. Das Hirn sieht sich von Furchen gekennzeichnet. Nach vorne, nach hinten, nach oben und nach unten, wie in dem Lied von Laurenzia mein, teilt sich das Hirn, in einzelne Lappen und Unterlappen. Ob sie mich gewollt haben oder im Büro ein Fehler unterlaufen ist, warum mich keiner als potentiellen Flüchtling verhindert hat, ist nicht zu klären. Ich versehe den Dienst an der deutsch-deutschen Grenze, das heißt, ich könnte abhauen. Sie gehen davon aus, ich wäre dem Staate treu ergeben. Sie halten mich nicht mehr für ein verlassenes Kind. Sie meinen, ich würde dem Vaterland danken, zu Dank verpflichtet auf eine Flucht verzichten. Und sehen nicht, dass ich, wenn ich die Sturmbahn nehme, unterm Stacheldrahtverhau robbe, mich scheuche, mir körperliche Fitness abverlange, mich damit wappne, ihren Fängen zu entkommen. Als flüchtender Grenzer, wie sie ihn sich in allen geteilten Ländern hinterm Wall wünschen und für ihre Propaganda am besten verwenden können, komme ich an, lasse mich ablichten, verhören und steige aus der Uniform heraus, bin unter der Dusche, wasche mich rein von jeder Schuld, mache mich zur Mutter auf, beginne mein Leben als verspäteter Sohn. Ich werde fliehen. Ich werde mit der Mutter sprechen. Ich werde ihr verzeihen, wenn ihr zu verzeihen möglich ist, weil ich ihr Sohn bin. Wir werden die Trennung überwinden. Man wird uns helfen. Die Schwester wird folgen. Wir werden eins und sind dann eine Familie. Finden wir uns nicht, werden wir landesweit suchen. Ich weiß den Weg über den Grenzzaun. Ich weiß, was zu tun ist, wo mein Durchschlupf auf mich wartet, Fuchs und Hase Gutenacht singen, Hirsch und Eber ohne Passkontrolle von Ost nach West und West nach Ost passieren, ohne dass ihnen etwas passiert. Auf allen vieren durch das Loch, durch das die Tiere schlüpfen, fahnenflüchtig und muttersüchtig, werde ich fliehen.

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